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Wo ist Marta

Der Fall Marta del Castillo

31. Mai 2025

Ein Verbrechen, das eine ganze Nation erschütterte – und bis heute keine Ruhe finden lässt

Es ist ein Fall, der Spanien seit über anderthalb Jahrzehnten in Atem hält: Am 24. Januar 2009 verschwand die 17-jährige Marta del Castillo Casanueva spurlos in Sevilla. Was als Verabredung mit ihrem Ex-Freund begann, entwickelte sich zu einem der spektakulärsten und kontroversesten Kriminalfälle der jüngeren spanischen Geschichte. Bis heute ist der Aufenthaltsort ihrer Leiche unbekannt – und die Wahrheit über die Ereignisse jener Nacht bleibt im Dunkeln.

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Marta del Castillo war eine 17-jährige Schülerin aus einer respektablen Familie im Stadtteil Los Bermejales in Sevilla. Sie besuchte das Instituto de Educación Secundaria Macarena und galt als fleißige, beliebte Schülerin mit einer vielversprechenden Zukunft. Ihre Eltern, Antonio del Castillo und Eva Casanueva, beschrieben sie als fröhliches, aufgeschlossenes Mädchen, das gerne ausging und viele Freunde hatte.

Miguel Carcaño Delgado, damals 20 Jahre alt, war Martas Ex-Freund. Die beiden hatten eine turbulente On-Off-Beziehung geführt, die von Eifersucht und Streitereien geprägt war. Carcaño stammte aus schwierigen Verhältnissen und hatte bereits in jungen Jahren Probleme mit Drogen und Gewalt. Sein Halbbruder Francisco Javier Delgado, genannt „El Cuco“ (Der Schreckliche), war 16 Jahre alt und galt als besonders aggressiv und unberechenbar.

Weitere zentrale Figuren sind Samuel Benítez, damals 15 Jahre alt, und Francisco Javier García Marín, ebenfalls bekannt als „El Cuco“, der nicht mit dem Halbbruder zu verwechseln ist. Diese Gruppe von Jugendlichen bewegte sich in einem Milieu aus Drogen, kleinen Delikten und Gewalt im Stadtteil León XIII.

Chronologie eines Verbrechens

24. Januar 2009, 17:30 Uhr: Marta verlässt ihr Elternhaus in Los Bermejales, um sich mit Miguel Carcaño zu treffen. Sie hatte ihm zuvor per SMS geschrieben, dass sie ihn sehen wolle, um über ihre Beziehung zu sprechen.

24. Januar 2009, 18:00-20:00 Uhr: Marta trifft Carcaño in der Nähe der Wohnung seiner Großmutter in der Calle León XIII, 5. Die genauen Ereignisse dieser Stunden bleiben bis heute unklar, da Carcaño über die Jahre sieben verschiedene Versionen der Geschehnisse lieferte.

24. Januar 2009, 21:00 Uhr: Martas Handy wird zum letzten Mal geortet. Das Signal verschwindet in der Gegend um die Wohnung in der León XIII.

25. Januar 2009, morgens: Als Marta nicht nach Hause kommt, alarmieren ihre Eltern die Polizei. Die ersten Ermittlungen beginnen.

26. Januar 2009: Miguel Carcaño wird verhaftet. Er behauptet zunächst, Marta habe die Wohnung lebend verlassen.

27. Januar 2009: Carcaño ändert seine Aussage und behauptet, Marta sei an einer Überdosis Kokain gestorben. Er gibt an, ihren Körper in den Guadalquivir geworfen zu haben.

Februar 2009: Intensive Suchaktionen beginnen. Polizeitaucher durchkämmen den Fluss, Spürhunde suchen die Umgebung ab. Die Medien berichten täglich über den Fall.

März 2009: Samuel Benítez wird verhaftet. Er gibt zu, beim Transport von Martas Leiche geholfen zu haben.

April 2009: Francisco Javier Delgado („El Cuco“, der Halbbruder) wird festgenommen. Er bestreitet jede Beteiligung an dem Verbrechen.

2010: Die Ermittlungen weiten sich aus. Weitere Verdächtige werden verhört, darunter auch Martas neue Liebe, der 16-jährige Javier, den sie seit kurzer Zeit traf.

September 2011: Der Prozess beginnt vor dem Provinzgericht Sevilla. Die Geschworenen müssen zwischen verschiedenen Theorien über den Tathergang entscheiden.

Oktober 2011: Miguel Carcaño wird zu 21 Jahren und 3 Monaten Haft verurteilt. Samuel Benítez erhält eine Jugendstrafe von 3 Jahren. Francisco Javier Delgado wird freigesprochen.

2012-2018: Zahlreiche Berufungen und Revisionsverfahren folgen. Carcaño ändert seine Aussage mehrfach und beschuldigt abwechselnd verschiedene Personen.

2019: Zehnjähriges Jubiläum des Falls. Die Eltern gründen eine Stiftung und setzen eine Belohnung von 300.000 Euro für Hinweise zum Aufenthaltsort der Leiche aus.

2021: Netflix veröffentlicht die Dokumentarserie „¿Dónde está Marta?“ (Wo ist Marta?), die den Fall international bekannt macht.

Mai 2022: Sensationelle Wendung: Francisco Javier García Marín („El Cuco“, nicht der Halbbruder) gesteht nach 13 Jahren, in der Tatnacht in der Wohnung anwesend gewesen zu sein. Auch seine Mutter gab zu, bei dem Prozess 2011 gelogen zu haben.

2023: Die Analyse von Carcaños Mobiltelefon bringt neue Fotos und Nachrichten ans Licht, die seine Bewegungen in der Tatnacht dokumentieren.

Januar 2024: 15 Jahre nach dem Verschwinden bleiben die Haupträtsel des Falls ungelöst. Die Familie kämpft weiterhin um Aufklärung.

Die sieben Versionen des Miguel Carcaño

Die Widersprüchlichkeit von Carcaños Aussagen ist einer der frustrierendsten Aspekte des Falls. Seine verschiedenen Versionen der Ereignisse:

Version 1: Marta habe die Wohnung lebend verlassen. Er wisse nicht, was danach geschehen sei.

Version 2: Marta sei an einer Überdosis Kokain gestorben, das er ihr gegeben habe. Er habe sie in Panik in den Guadalquivir geworfen.

Version 3: Sein Halbbruder Francisco Javier Delgado habe Marta getötet, nachdem sie sich geweigert habe, Sex mit ihm zu haben.

Version 4: Marta sei bei einem Streit unglücklich gestürzt und habe sich den Kopf gestoßen.

Version 5: Er habe Marta erwürgt, nachdem sie gedroht habe, ihre Beziehung öffentlich zu machen.

Version 6: Samuel Benítez sei der wahre Täter gewesen.

Version 7: Es sei ein Unfall gewesen, bei dem mehrere Personen beteiligt waren.

Diese ständigen Wendungen machten es den Ermittlern unmöglich, den wahren Tatablauf zu rekonstruieren und die Leiche zu finden.

Die verzweifelte Suche der Familie

Antonio del Castillo und Eva Casanueva verwandelten ihre Trauer in eine unermüdliche Suche nach ihrer Tochter. Sie unternahmen außergewöhnliche Schritte, die das Ausmaß ihrer Verzweiflung verdeutlichen:

2019 kauften sie die Wohnung in der Calle León XIII, 5, wo ihre Tochter mutmaßlich getötet wurde. Mit eigenen Händen rissen sie Wände ein, hoben Böden auf und suchten nach Spuren. Sie beauftragten Georadar-Spezialisten und ließen sogar den Keller der Wohnung untersuchen.

Die Familie organisierte unzählige Suchaktionen. Freiwillige durchkämmten Felder, Industrieanlagen, Mülldeponien und verlassene Gebäude. Polizeitaucher suchten nicht nur im Guadalquivir, sondern auch in Brunnen, Kanalisationen und anderen Gewässern der Region.

2020 führten Wissenschaftler der Universidad de Sevilla sogar ein makabres Experiment durch: Sie warfen Schweinekadaver in den Guadalquivir, um zu testen, ob Körper unter den beschriebenen Umständen an die Oberfläche gespült worden wären. Das Ergebnis: Die Aussagen der Verdächtigen über die Entsorgung der Leiche waren höchst unwahrscheinlich.

Forensische Rätsel und wissenschaftliche Ansätze

Der Fall Marta del Castillo wurde zu einem Lehrstück für forensische Ermittlungen in Spanien. Experten aus verschiedenen Bereichen arbeiteten an der Aufklärung:

Handyanalyse: Die Auswertung von Mobiltelefonen spielte eine zentrale Rolle. 2023 gelang es Technikern, weitere Daten aus Carcaños Handy zu extrahieren, darunter gelöschte Nachrichten und Fotos aus der Tatnacht.

DNA-Spuren: In der Wohnung wurden DNA-Spuren von Marta gefunden, was ihre Anwesenheit dort bestätigte. Auch Blutspuren wurden entdeckt, die jedoch aufgrund unsachgemäßer Sicherung nicht alle gerichtsverwertbar waren.

Digitale Rekonstruktion: Experten erstellten 3D-Modelle der Wohnung und simulierten verschiedene Tatszenarien.

Psychologische Profile: Kriminologen erstellten psychologische Profile aller Beteiligten, um ihre Glaubwürdigkeit zu bewerten.

Aktuelle Entwicklungen und Hoffnung auf Aufklärung

Heute, 16 Jahre nach Martas Verschwinden, ist der Fall längst nicht abgeschlossen. Neue Beweise werden regelmäßig geprüft, Zeugenaussagen revidiert, und die Familie kämpft weiterhin um Gerechtigkeit.

Die Geständnisse von „El Cuco“ García Marín und seiner Mutter im Jahr 2022 brachten neue Bewegung in den Fall. Zum ersten Mal seit Jahren gibt es wieder konkrete Ermittlungsansätze. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob das Verfahren wieder aufgerollt werden kann.

Die Familie del Castillo hat nie aufgegeben. Sie organisieren weiterhin Gedenkveranstaltungen, sammeln Spenden für weitere Suchaktionen und kämpfen für Änderungen im Justizsystem. „Wir werden niemals aufhören zu suchen“, sagt Antonio del Castillo. „Marta verdient Gerechtigkeit, und wir verdienen die Wahrheit.“

Der Fall Marta del Castillo ist mehr als nur ein Kriminalfall geworden. Er ist zum Symbol für die unerschütterliche Liebe von Eltern, für die Unzulänglichkeiten des Justizsystems und für die Hoffnung, dass die Wahrheit irgendwann ans Licht kommt. Solange Martas Leichnam nicht gefunden wird, solange die Wahrheit über jene verhängnisvolle Nacht im Januar 2009 nicht geklärt ist, wird dieser Fall Spanien weiter beschäftigen.

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